Ich-Botschaften sollen die eigenen Gefühle und Bedürfnisse für den Gesprächspartner transparent machen und sind ein hilfreiches Mittel, um Konflikte zu vermeiden oder zu entschärfen. Doch auch Sätze, die mit „Ich“ anfangen, können wie ins Feuer gegossene Öl wirken – wenn man das Wesentliche übersieht.
Eigentlich ist es zum Staunen, wie wir in unserer Gesellschaft miteinander kommunizieren und dass wir uns noch nicht alle gegenseitig umgebracht haben.
Die allermeisten Menschen drücken ihre schmerzhaften Gefühle und ihre Bedürfnisse nämlich durch Angriffe auf ihre Mitmenschen aus.
Anstatt zu sagen: „Ich bin müde und brauche Hilfe, würdest du den Tisch für uns alle decken?“ kommt so etwas wie: „Mann, schon wieder hängst du vor dem Fernseher! Nie hilfst du mit!“
Aus „Ich bin traurig, kannst du mich in den Arm nehmen?“ wird „Nie bist du für mich da!“ und aus „Als du gestern nicht gekommen bist, habe ich mich allein gefühlt und gedacht, ich bin dir nicht wichtig!“ machen wir „Du bist unzuverlässig und rücksichtslos!“
Kurz gesagt, wir haben gelernt, in so genannten „Du-Botschaften“ zu sprechen. Vor allem wenn wir wegen etwas traurig oder ärgerlich sind. Wir sprechen nicht über das, was ins uns vorgeht und was wir gerne hätten, sondern machen Schuldzuweisungen – schon fast wie ein Autopilot, der sich beim Auftauchen des geringsten negativen Gefühls gleich auf die Suche nach einem Schuldigen macht und diesen mit Vorwürfen überhäuft.
Du-Botschaften sollen uns schützen
Eigentlich ist diese verdrehte Art der Kommunikation ja gut gemeint. Sie soll uns selbst vor Verletzungen schützen. Die Logik ist: Wenn ich mein Inneres verstecke, kann mir keiner etwas tun.
Das Tragische an dieser Art, mit unseren Gefühlen und Bedürfnissen umzugehen, ist allerdings, dass sie uns von anderen entfernt und zu Streitereien und Konflikten führt. Wir alle kennen die typische Eskalationsspirale im Streit nach dem Motto: „Du bist schuld!“ „Nein, du!“ – schon kleine Kinder beherrschen sie. Der Schuss geht nach hinten los: Was uns vermeintlich schützen soll führt erst recht zur Verletzung!
Man könnte auch sagen, „Du-Botschaften“ funktionieren dann prächtig, wenn man Konflikte weiter anheizen und Beziehungen ruinieren will. Aus diesem Grund empfehlen Kommunikationsratgeber, anstatt der „Du-Botschaften“ „Ich-Botschaften“ zu verwenden und über uns selbst zu sprechen, anstatt dem anderen Vorwürfe zu machen.
„Ich-Botschaften“ wirken dabei gleich auf mehrere Weisen:
1. Sie bewirken beim Empfänger weniger ein Gefühl des Vorwurfs und des Angeklagtwerdens, weshalb die Chancen höher stehen, dass er zuhört und für das Anliegen offen ist
2. Sie bewirken beim Sprecher, dass er sich selber klarer wird über das, was er fühlt und braucht. Dadurch kann er leichter direkt um das bitten, was er möchte, und erhöht wiederum seine Chancen, gehört zu werden und seine Bitte erfüllt zu bekommen.
Es gibt verschiedene Modelle zu „Ich-Botschaften“, doch es gibt einen gemeinsamen Kern aus folgenden Elementen:
1. der Beschreibung dessen, was geschehen ist und das Gefühl ausgelöst hat (der so genannten „Beobachtung“ – lies dazu hier auch meinen Artikel über den Unterschied zwischen Fakt und Interpretation)
2. der Mitteilung des ausgelösten Gefühls
3. der Begründung für das Gefühl: Das Gefühl wird zwar durch ein Ereignis ausgelöst, also getriggert, das Ereignis ist jedoch nicht die Ursache für das Gefühl. Thomas Gordon, der Psychologe, auf den die Sache mit den Ich-Botschaften zurückgeht, würde sagen, die Ursache für das Gefühl ist eine bestimmte Auswirkung, die das Verhalten hat.
Ein Beispiel wäre: „Wenn du ohne mich ins Kino gehst, weiss ich nicht, was ich heute Abend machen soll und fühle ich mich allein.“ Hier wäre der Grund für das Gefühl des Alleinseins also nicht, dass der andere allein ins Kino geht, sondern dass ich nicht weiß, was ich sonst machen soll.
Marshall Rosenberg, der Begründer der Gewaltfreien Kommunikation, würde als Grund für das Gefühl ein unerfülltes Bedürfnis nennen. Hier würde das gleich Beispiel vielleicht so lauten:
„Wenn du ohne mich ins Kino gehst, fühle ich mich allein, weil ich ein Bedürfnis nach Gesellschaft habe.“
Worauf es ankommt: Die Unschuld
Beiden obigen Beispielen ist gemeinsam, dass sie den Fokus vom Verhalten des anderen als dem „Schuldigen“ für das eigene Gefühl nehmen und stattdessen den Blick auf das Geschehen im eigenen Inneren lenken sollen.
Den anderen nicht als „schuldig“ zu betrachten, ist der wesentliche Faktor, der bei Ich-Botschaften eine klärende und deeskalierende Wirkung hevorruft.
Und genau an dieser Stelle kann man ganz leicht ins Stolpern geraten.
Bevor es darum geht, seine Sätze anders zu formulieren und „ich“ statt „du“ zu verwenden, muss man nämlich erst einmal im eigenen Inneren an den Punkt kommen, den anderen nicht als schuldig sehen zu wollen.
Es ist schnell passiert, eine wohlformulierte Ich-Botschaft abzuschicken und trotzdem innerlich zu glauben, dass man selbst nur dieses blöde Gefühl hat, weil der andere sich so und so verhalten hat.
Der andere ist doch schuld an meinem Gefühl des Alleinseins, weil er ohne mich ins Kino gegangen ist. Wäre ich nicht allein zu Hause gewesen, hätte ich mich nicht so ätzend gefühlt. Oder?
Auch ein Satz wie „Wenn ich sehe, dass der Müll immer noch der Küche steht, bin ich frustriert, weil ich ein Bedürfnis nach Unterstützung habe!“ kann immer noch zu leicht als Waffe missbraucht werden.
Hast du Lust auf ein kleines Experiment? Dann stell dir doch einmal kurz vor, du seist derjenige, zu dem dieser Satz gesagt wird. Wie fühlst du dich? Hast du den Eindruck, einen Vorwurf abzubekommen oder etwas falsch gemacht zu haben? Oder nicht?
Will ich die Unschuld sehen?
Wenn man die Waffe lieber im Schrank lassen will, rate ich, sich vorm Sprechen erst einmal ganz ehrlich die folgenden Fragen zu stellen:
„Glaube ich insgeheim nicht doch daran, dass das Verhalten des anderen für mein Gefühl verantwortlich ist?
Verfolge ich unterschwellig das Ziel, ihm seine Schuld für mein Unglück aufs Brot zu schmieren?
Wünsche ich mir heimlich, dass er sein ,Vergehen` einsieht und sein Verhalten ändert und/ oder sich entschuldigt?“
Wenn man eine oder gar alle dieser Fragen mit „ja“ beantworten kann, dann ist das ein sehr gutes Zeichen. Es zeigt nämlich, dass man seine bisher weitgehend unbewusste Konditionierung schon gut selbst durchschauen kann und dabei ist, sich von ihr zu befreien.
Unter uns gesagt: Diese drei Fragen zeigen, wie wir alle ticken.
Sie beschreiben den ganz normalen Modus eines hervorragend funktionierenden Mitglieds unserer Gesellschaft. Kein Grund zum Schämen :-).
In dem Moment, indem man merkt, dass man gerade ganz heiß auf Schuldzuweisungen ist, hilft es, sich klar zu machen, was man am Ende davon hat:
Der andere wird sich sehr wahrscheinlich angegriffen fühlen und defensiv werden. Er wird einen Gegenangriff starten. Wir werden uns gegenseitig mit Schuldzuweisungen überhäufen und das Gespräch wird einen hässlichen Verlauf nehmen. Vielleicht werden wir Stunden oder Tage sauer aufeinander sein und unter schlechter Stimmung leiden.
Dann kann man sich fragen:
Macht das Spaß? Ist es das, was ich möchte?
Was ist das Ziel?
Tief im Herzen will ich natürlich keinen Streit und keine Entfremdung. Auch wenn ich mich ziemlich verletzt fühle und der Drang, Vorwürfe zu machen übermächtig scheint, kann ich mich daran klammern, dass ich eigentlich lieber eine gute Beziehung und ein schönes Gespräch möchte.
Beides bekomme ich, wenn ich auf eine Schuldzuweisung verzichte.
Und es reicht, zu Beginn des Gesprächs ein bisschen offen für die Unschuld des anderen zu sein – ich muss noch nicht hundertprozentig davon überzeugt sein.
Nun habe ich die innere Haltung, mit der ich eine wahre Deeskalation bewirken kann.
Diese innere Haltung würde ich dann noch deutlicher in meinen Worten spiegeln und den Fokus so weit es geht auf mich und nicht das Verhalten des anderen lenken.
Ganz entgegen unserer Konditionierung, unser Inneres zu verstecken um nicht verletzt zu werden, müssen wir unser Inneres so gut es geht transparent machen. Dies führt nämlich fast immer dazu, dass der andere sich berührt fühlt und uns gerne unterstützt!
Zuerst kommen die Fragen: Was fühle ich – und vor allem: Was denke ich?
In der Regel ist es nicht so sehr das Verhalten des anderen, durch das wir uns verletzt fühlen, sondern die Schlüsse, die wir daraus ziehen.
Wenn mein Partner ohne mich ins Kino ginge, würde die typische Stimme in mir wahrscheinlich interpretieren, dass er mich nicht wertschätzt und nicht mit mir zusammen sein will – zumindest nicht heute Abend!
Den Fokus ganz auf mich zu legen, könnte zum Beispiel so aussehen: „Als ich gestern Abend ohne dich zu Hause war, ging es mir nicht gut, ich war schon fast verzweifelt. In meinem Kopf ging die Geschichte rum, dass du keine Lust hast, Zeit mit mir zu verbringen, und das hat mir Angst gemacht. Ich habe auch Angst, dir das jetzt zu sagen, du denkst bestimmt, ich bin irgendwie gestört, dass ich so drauf bin. Kannst du auch einen so verrückten Menschen lieben wie mich?“
Und hier noch eine Anregung für den Müll in der Küche:
„Ich brauche gerade einmal deine Hilfe… Wenn ich sehe, dass der Müll noch in der Küche steht, denke ich, dass du mir nicht hilfst und es dir egal ist, wie es mir geht. Ich fühle mich allein mit all den Dingen, die es zu tun gibt, völlig erschöpft, und dann denke ich so krasse Sachen über dich. Kannst du mich noch einmal daran erinnern, dass du ein wunderbarer, hilfsbereiter Mensch bist und meine Gedanken Quatsch sind?“
Falls du das einmal ausprobieren möchtest und Angst hast, dass dein Gegenüber dich für total durchgeknallt hält, weil er diese Art zu reden von dir gar nicht kennt, dann kannst du noch sagen: „Vielleicht klingt das komisch, wie ich die Dinge gerade formuliere, aber ich übe eine neue Art, mich auszudrücken, denn ich will aufhören, dir Vorwürfe zu machen.“
Wie fühlt es sich an, so etwas gesagt zu bekommen….? 🙂
Ich würde mich freuen, wenn du aus diesem Artikel etwas für dich mitnehmen kannst! Wenn du noch eine Frage zu diesem Thema hast, kannst du sie gerne in den Kommentaren unten stellen und ich werde dir antworten.
Viel Erfolg beim Ausprobieren!
Kendra Gettel
Liebe Kendra,
deine beiden Beispiel-Sätze ganz am Schluss lösen so ganz andere Gefühle aus als die Sätze am Anfang. Statt Verteidigung herauszufordern, wecken sie den Wunsch, Vertrauen und Unterstützung zu vermitteln.
Herzlichen Gruß,
Walter
Solche Beispiele würde ich gerne immer wieder hören, um die Alternative zur früher angelernten Art, in Vorwürfen und Forderungen zu sprechen, weiter zu verinnerlichen und zu lernen.
Lieber Walter, mein Herz weitet sich, wenn ich lese, dass du den Unterschied zwischen den Sätzen am Anfang und denen am Ende fühlen kannst. Ich finde konkrete Beispiele auch immer sehr hilfreich. Danke, dass du mir geschrieben hast.
Kendra
Danke. Meine Vorwuerfe an meine Frau beziehen sich fast ausschliesslich auf ihre Kritik und ihr Noergeln. Ich-Botschaften der beschriebenen Art haben nichts gebracht. Was wirkt, dass kein Streit beginnt, ist einzig, mich zu entschuldigen und zu sagen, ich wuerde es besser machen oder nicht mehr tun. Sogar mein Schweigen bringt in solchen Situationen weitere Vorwuerfe, wieso ich nun ein Gesicht mache, ich wuerde nie einsehen, etc.
Meine Frau kann Deinen guten Artikel mangels Deutschkenntnissen nicht lesen, leider, und vielleicht ohnehin nicht lesen wollen.
Danke fuer schoenen Artikel – man ist naemlich wirklich davon ueberzeugt, dass der andere mit seinem Verhalten die Schuld fuer mei e Gefuehle traegt – und deshalb versuchen wir dann, sein Verhalten zu kontrollieren
Hallo,
ja, sind wir nicht schön verrückt? 😉
Liebe Grüße!
Liebe Kendra,
für mich ist der Gedanke der Unschuld elementar wichtig.
Ich übe diese Kommunikation schon längere Zeit, jedoch war mir der Gedanke der Unschuld des anderen nie so klar.
Danke für diese gute Erinnerung.
Herzlichst Gundula
Liebe Gundula,
danke für deine Rückmeldung, es freut mich, dass ich etwas beitragen konnte.
Bei mir hat es diesbezüglich auch erst vor kurzem so richtig „Klick“ gemacht. Es ist gerade sehr spannend!
Viele Grüße,
Kendra